Jeder bitte nur ein Ticket

Dieser Artikel ist ein Auszug aus meinem Buch. Er zeigt dir, dass das Leben oft einem Wartesaal gleicht und es wirklich Sinn macht, diesen freiwillig zu verlassen. Denn verlassen musst du ihn ohnehin irgendwann …

Ich drücke das Knöpfchen. Bing! Das Ticket kommt aus dem Automaten. Nummer 356. Mein Blick geht hoch zur elektronischen Anzeige: »304, bitte gehen Sie zu Sachbearbeiter 6«. Und mir wird klar: Der Wartebereich des Einwohnermeldeamtes wird für diesen Nachmittag mein Hauptwohnsitz. Und genau den wollte ich ändern lassen.

Jeder Behördengänger kennt mittlerweile ein solches automatisiertes Warteschlangenmanagement. Schlechte Zeiten für notorische Vordrängler. Das gute an diesem System: Irgendwann wird die Nummer aufgerufen, die auf dem Kärtchen steht. Auch wenn es etwas dauert.

Geht es um unsere eigenen Träume und Visionen, geht es auch hier meistens ab in den Wartesaal. Wir warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie endlich anzugehen.

Wir warten, bis wir in Rente sind oder bis die Wirtschaftslage sich gebessert hat. Wir warten, bis wir einen neuen Partner haben, bis wir den Partner wieder losgeworden sind, bis wir Kinder haben, bis die Kinder aus dem Haus sind, bis die Kinder Kinder haben. Wir warten, bis wir genügend Bücher gelesen und Ausbildungen absolviert haben.

Wir warten, bis der Mars im 12. Solarhaus dreimal um die eigene Achse rotiert, weil dann die Sterne besonders günstig stehen für unser Vorhaben. Und wir warten und warten und warten.

Preisfrage: Worauf wartest du gerade?

[Denkpause]

Das blöde an diesem inneren Warteschlangenmanagement ist folgendes: Hier gibt es niemanden, der unsere Nummer aufruft. Keine Stimme, die aus dem Lautsprecher ertönt und uns auffordert: »Nummer 6.583.235.467, Sie können jetzt beginnen Ihre Träume zu leben! Starten Sie durch!«

Und so füllt sich der Wartesaal des Lebens mit Menschen, die darauf warten, bis der ultimative Zeitpunkt gekommen ist.

Für manche kommt er leider nie. Erst wenn sie merken, dass die Aufenthaltsgenehmigung sich langsam dem Ende zuneigt und der Hauptwohnsitz auf diesem Planeten endgültig aufgegeben werden muss, stellen sie fest, dass sie den Wartesaal nie wirklich verlassen haben.

Wenn keine Stimme aus dem Off kommt, die dir die Erlaubnis gibt, jetzt zu starten, wer macht es dann? Wer ist dafür verantwortlich, damit deine Nummer endlich am Display erscheint? Dreimal darfst du raten! Sorry, die Antwort verrate ich dir nicht.

Doch jetzt kommt es noch dicker! Manchmal tun wir so, als ob wir auf den richtigen Zeitpunkt warten würden, wobei wir aber insgeheim nie vorhaben, es wirklich zu tun. Ein bisschen flunkern wir uns dabei selber an. Da wir diesem Schmerz ausweichen wollen, unseren Traum endgültig aufzugeben, tun wir so, als ob wir auf etwas warten. Auch wenn dann gewisse Umstände günstig sind, finden wir dennoch wieder Gründe, um auf etwas anderes zu warten. Kennst du diese Form von Selbstsabotage? Also ich schon. Natürlich nur von anderen. 😉

Wieso das Versteckspiel? Vielleicht glauben wir nicht wirklich an ein Gelingen. Vielleicht haben wir Angst, was wir verlieren könnten. Oder was passieren würde, wenn wir tatsächlich erfolgreich wären. Vielleicht fehlt uns aber einfach der Mut, den Kopf aus der Herde herauszustecken und unseren eigenen Weg zu gehen. Was würden denn die anderen denken? Ob es wirklich möglich wäre, finden wir so nie heraus.

Und so bleiben wir in unserem bekannten, sicher wirkenden, warmgepupsten Komfortsessel in der Wartezonesitzen (abgekürzt: »Komfortzone«). Wieso aufstehen? Am Schluss schnappt uns vielleicht noch jemand den Platz weg.

Doch das Leben ist oft anderer Meinung. Wenn wir selbst den Allerwertesten nicht hochkriegen, kommen manchmal deutliche Aufforderungen, den Saal zügig zu verlassen: Eine Krankheit, ein Jobverlust oder was auch immer.

Vor einiger Zeit habe ich mich – teils selbstbestimmt, teils vom Leben angekickt – aus dem Wartesaal in die »Wildnis« hinaus getraut, um etwas frische Luft zu schnappen. Ich habe so getan, als ob ich nur kurz Pipi müsste. Ich ging dann aber doch vor die Tür und machte mit ein paar meiner Träume endlich ernst. Dabei merkte ich erst, dass die Luft im Wartesaal schon ziemlich muffig war.

Ich finde es jedenfalls deutlich entspannter, freiwillig den Wartesaal zu verlassen. Es muss ja nicht immer erst zu der leidvollen Erfahrung kommen, dass einem das Leben die Security vorbei schickt, die einen unsanft vor die Tür setzt, oder?

Auszug aus meinem Buch Herr Doktor, ich habe Visionen.

Christian Kirschner

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